Nachdem ich bereits den letzten Artikel auf ähnliche Weise begonnen habe, behalte ich das einfach also roten Faden bei und bringe die Quintessenz des Beitrags gleich am Anfang: Wir sollten immer die Person vor uns behandeln und nicht ihre Bildgebung. Denn wir können nicht von vermeintlich pathologischen Veränderungen auf einem MRT oder Röntgenbild automatisch darauf schließen, dass diese für bestehende Schmerzen oder andere Probleme verantwortlich sind.
Zu diesem Schluss kann man kommen, wenn man sich die zunehmende Anzahl an Studien anschaut, die die unterschiedlichsten Gelenke bei asymptomatischen Proband*inn*en mittels Bildgebung untersucht haben. Diese kamen immer wieder zu ähnlichen Ergebnissen: Auch komplett asymptomatische Gelenke zeigen zum Teil deutliche Veränderungen auf, die bei einer rein radiologisch Beurteilung zu dem Schluss führen könnten, dass invasive Schritte, wie beispielswiese ein arthoskopischer Eingriff, nötig sind.
Ein gutes Beispiel ist die Veröffentlichung von Lee et al. aus dem Jahr 2019. Für ihre Studie haben die Wissenschaftler*innen 26 asymptomatische Volleyballer*innen aus den US Nationalmannschaften der Frauen und Männer in ein MRT gesteckt und die Schulter des Schlagarms bildgebend untersucht. Die Ein- und Ausschlusskriterien waren folgende:
“Inclusion criteria for the study included playing nationally and internationally with no pain or restrictions to activity level at the time of the study (asymptomatic). Exclusion criteria included pain in the dominant shoulder of the athlete, having gone through a rehabilitation program within the year before data collection, previous surgery on the dominant shoulder and regular use of pain or anti-inflammatory medications at the time of data collection (symptomatic).”
Und hier die Auffälligkeiten, die gefunden wurden:

Es wurden also bei fast 90 Prozent der Spieler*innen zum Teil gravierende Veränderungen im Schultergelenk gefunden. Für mich persönlich sind solche Erkenntnisse immer wieder faszinierend. Denn es wird dadurch immer deutlicher, dass die Ergebnisse der Bildgebung und dem tatsächlichen Ausmaß an daraus resultierenden Symptomen in keinem klaren und direkten Zusammenhang stehen müssen. Schließlich reden wir bei den Proband*inn*en in dieser Studie über Volleyballer*inn*en, die zum Zeitpunkt der Untersuchung auf dem höchsten internationalen Niveau gespielt haben. Wer sich einen kurzen Überblick über die Kräfte verschaffen möchte, denen Schultern beim Volleyball auf diesem Niveau ausgesetzt werden, kann sich in diesen zwei Videos (hier und hier) einen Eindruck davon verschaffen.
Nun liegt der Gedanke nahe, dass eine Schulter, die durch jahrelangen Leistungssport in Mitleidenschaft gezogen wird, vielleicht nicht sofort Probleme macht. Aber mit ziemlicher Sicherheit in den Jahren nach der Sportlerkarriere. Ein möglicher Grund ist beispielsweise der Verlust von Kraft und Muskelmasse, der das Gelenk funktionsfähig hält. In diese Richtung zielt die Forschungsfrage, der sich Schär et al. angenommen haben (Link). Dabei wurde die Wurfschulter von Handballern 6 beziehungsweise 15 Jahre nach Karriereende im MRT untersucht. Und entgegen der gängigen Annahme, dass sich degenerative Veränderungen eher verschlechtern, konnte dies in der Studie nicht festgestellt werden. Vielmehr schienen sich viele der zum Karriereende festgestellten Veränderungen im Laufe der folgenden 15 Jahre zurückgebildet zu haben.
Damit will ich nicht sagen, dass jegliche Bildgebung zu ignorieren ist. Aber Ergebnisse wie diese legen einen vorsichtigen Umgang bei ihrer Interpretation nahe. Erst recht, wenn man bei fehlenden Symptomen auf zukünftige Probleme mit einem Gelenk schließen will. Und auch bei Menschen mit Symptomen und auffälliger Bildgebung bedarf es einer gewissen Zurückhaltung, wenn aus Korrelation plötzlich Kausalität werden soll. Wir wissen schließlich nicht erst durch Studien wie diese, wie schwierig es ist, die Ursachen für Schmerzen und Co. zu finden.
Was ich noch zu diesem Thema gelesen habe:
Lee et al. 2019 Shoulder MRI in asymptomatic elite volleyball athletes shows extensive pathology